Kühe unter Apfelbäumen
Wie Kühe Streuobstwiesen erhalten
Von »Hof sucht Bauer« über eine magische Kuh bis zu einer alten Symbiose, die neue Beliebtheit erfährt
Die Kuh »Magic« grast friedlich zwischen alten Bäumen. Vereinzelt liegen große Äste herum, ein Baum trägt gar keine Blätter mehr, sondern ragt stolz und knochig empor. Wir, Vincent Fahrendorf und ich [Anna-Kathrin], stehen im kühlen Schatten mitten auf einer Wiese- und Weidefläche in Kirchheim am Neckar. Um uns herum sehen wir sehr alte verwachsene Obstbäume, weiter hinten eine Reihe neu gepflanzter Jungbäume, noch umrahmt von Stützpflöcken und einem Stammschutz vor knabberfreudigem Rindvieh.
warum die Kuh »Magic« heißt, verrate ich dir am Ende des Artikels.
Auf der Wiese nebendran laufen Hühner frei herum. Diese haben ihre ganz privaten und sehr aktiven Beschützer:innen direkt mit dabei: Ziegen. Die halten durch ihren hohen Bewegungsdrang und das ständige Herumgeklettere die Greifvögel fern. Überall zwitschert es. Von der einzigen Straße, die am Hof vorbeiführt, und auf welcher die Autos nur so rasen, ist kaum etwas zu hören.
Hier kann man es aushalten, auch trotz Sommerhitze! Das sieht auch Kuh »Magic« so, die uns erst skeptisch beäugt, dann aber langsam zum Stall zurück trottet. Ihre Artgenossen liegen entspannt im Stroh.
Kühe unter alten Apfelbäumen und Ziegen als Bodyguards von Hühnern? Wo sind wir nur gelandet?
Was an diesem warmen Junitag um uns herum liegt, ist ein Hotspot der Biodiversität und Artenvielfalt, und das in doppelter Nutzung. Die 15 Kühe und Rinder des Demeter-Betriebs Haghof in Kirchheim am Neckar haben eine ganz besondere Auslauf- und Weidefläche. Sie genießen den Schatten von alten Streuobstbäumen und dürfen im Spätsommer, während der Erntesaison, das Fallobst schmausen.
Vincent hat den Hof übers Internet gefunden
»Nur nicht alles auf einmal«, erklärt Vincent Fahrendorf, sonst bekämen sie Bauchschmerzen. Er und seine Lebensgefährtin Juscha Frank haben seit Januar 2021 den Betrieb gepachtet. Von zuhause aus hatte er eigentlich keinen Kontakt zur Landwirtschaft, trotzdem war ihm schon immer klar, dass er einen eigenen Hof bewirtschaften möchte. Er studierte ökologische Landwirtschaft und nutzte alle möglichen Hof-Vermittlungsplattformen, wie hofsuchtbauer.de oder hof-gesucht-gefunden.de, um einen Hof für sich zu finden. Nach einer langen Suche und etlichen Besichtigungen von Betrieben wurden er und Juscha endlich fündig.
Testphase: Passen er und der Hof zusammen?
Einige Monate lebte Vincent in einem Wohnwagen zur Probe mit auf dem Hof, ging von dort weiterhin zur Arbeit auf den Bau und half, wann immer er konnte, bei der Arbeit auf dem Hof mit. Die Backstube zum Beispiel war ein neuer Bereich für ihn, den er erstmal kennenlernen musste. Zum Jahreswechsel 2021/22 übernahm er dann den Hof mitsamt drei Rindern und den Wiesen rundherum. Zunächst weiterhin erst im Nebenerwerb geführt, ist Vincent nun seit Anfang des Jahres selbstständiger Landwirt in Vollzeit.
Ein langersehnter Traum, der jedoch gut abgestimmt werden muss. Seine Frau gehe arbeiten, er dürfe Landwirt sein und sein Hobby leben, meint Vincent lachend. Da muss eine solche Entscheidung gut überlegt sein. Deshalb baue er auch erst nach und nach alles aus. Ein Schritt nach dem anderen. Wenn allerdings eine Gelegenheit um die Ecke kommt, sollte man sie beim Schopfe packen.
Stiftung erweitert das Fördergebiet extra für Vincent
Eine solche Gelegenheit war die Bodensee-Stiftung, welche die Erweiterung der alte Streuobstwiese direkt am Hof mit neuen Bäumen durch eine Förderung unterstützen wollte. Dazu wurde extra das Fördergebiet des Projektes »Insektenfördernde Regionen« erweitert. Mit den alten Bäumen hatte Vincent zu Anfang einigen Ärger. Sein Plan war es, Apfelsaft zu machen, es krachten jedoch ständig Äste ab.
Es dauerte, bis er realisierte, was für ein wertvolles Naturhabitat er hinterm Stall hat. »So ein Biotop reißt man nicht einfach ab!« Die alten und zum Teil bereits toten Bäume böten vielen Tieren und Insekten Unterschlupf, Nistraum und Nahrung. So auch einem Steinkauz, der sich wohl in einer extra angebrachten Röhre sein zuhause gesucht hat.
Schon mal Elsbeer-marmelade probiert?
Insgesamt zehn neue Hochstammbäume hat Vincent gepflanzt, ausschließlich alte Apfel- und Birnensorten, sowie fast vergessenes Wildobst, wie Elsbeere und Speierling. Wer nicht weiß, was das ist, sollte mal beim Haghof vorbeifahren. Beides kann zu Marmelade, Gelee oder Saft verarbeitet werden und hilft z.B. bei Durchfall.
Streuobstwiesen — geliebt und gefährdet
Streuobstwiesen zählen in Baden-Württemberg zum Landschaftsbild. Die Apfelblüte lockt Tourist:innen an und am Wochenende oder nach Feierabend genießen Spaziergänger:innen und Jogger:innen eine Runde durch die Wiesen. Mit rund 89.000 Hektar befindet sich die größte zusammenhängende Streuobstfläche Europas in Baden-Württemberg.
Doch hat diese Landschaft zwei sehr konträre Listenplätze inne: Zum einen zählt Streuobstanbau seit 2021 zum Immateriellen Kulturerbe, zum anderen jedoch ist sie auf der Roten Liste der Biotoptypen Baden-Württembergs, durch den starken Rückgang in den letzten Jahren, als gefährdet eingestuft.
5.000 Tier- und Pflanzenarten fühlen sich hier wohl
Mit ihnen geht auch wertvoller Lebensraum für mehr als 5.000 Tier- und Pflanzenarten verloren. Gerade Vögel, wie der Steinkauz, finden auf Streuobstwiesen Nahrung durch Insekten und Brutplätze in den knorrigen Bäumen. Die Wiesen unterhalb der Obstbäume werden traditionell nur wenig und erst spät im Jahr gemäht. Rehkitze können hier ihre ersten Lebenstage im hohen Gras verbringen.
Die Mahd wird frisch oder als Heu abgetragen, so dass sich im Laufe der Jahre auf den entstandenen Magerwiesen etliche Gräser- und Kräuterarten ansiedeln konnten. Und auch wenn es viele eher abschreckt: Insekten, Spinnen und Reptilien finden auf Streuobstwiesen ihre Ruheplätze und Winterquartiere. Mehr Fakten über Streuobstwiesen erfährst du auf der Website der Landesanstalt für Umwelt BaWü:
Kühe unter Bäumen sind eigentlich gar kein neues Konzept. Bereits im Mittelalter wurden Hochstammbäume entlang von Äckern oder Straßenzügen gepflanzt, um die Flächen optimal zu nutzen. Solche Streuobstäcker und Agroforstsysteme ermöglichten es, sich viele Synergieeffekte der Natur zu eigen zu machen.
Harte Handarbeit: Mehr Pioniere wie Vincent gesucht
Heute braucht es dazu allerdings wieder mutige Pionierinnen und Pioniere wie Vincent — und finanzielle Unterstützung. Denn eins muss klar sein: Die Pflege und Bewirtschaftung von alten Hochstammbäumen ist harte körperliche Handarbeit, sie kann kaum mit den Erwerbsobstanlangen mithalten. Die Bäume müssen aufwendig geschnitten werden (einen Ast in vier Metern Höhe abzusägen, ist nicht immer leicht).
Auch das Abernten läuft per Hand. Im letzten Winter wurde der Schnitt auf Vincents Streuobstwiese vom Fachwartkurs des Landkreises Ludwigsburgs durchgeführt. Für die Fachwart-Anwärter:nnen war es eine einmalige Gelegenheit, zu lernen, wie Obstbäume als Habitat und nicht auf bestmöglichen Ertrag geschnitten werden.
Bäume freuen sich über Dünger, Kühe über Fallobst
Knapp 1.000 Liter Apfelsaft konnte im vergangenen Herbst gepresst werden. Durch die Hitze sei viel Obst bereits früh abgefallen und die Ernte schlecht gewesen, meint Vincent. »Die Kühe haben sich natürlich gefreut«, schmunzelt er. Jeden Tag durften diese ein weiteres Stück der Wiese abgrasen und das Fallobst genießen. Dabei düngen sie durch ihre Hinterlassenschaften die Grünfläche unter den Bäumen und übernehmen zusätzlich die Mäharbeiten — doppelt nützlich! Nur einige Stachelgewächse und Brennesseln mögen die Kühe nicht, da muss Vincent nacharbeiten.
Wie geht es weiter? Die Streuobstwiese direkt neben dem Hof ist bereits Demeter zertifiziert, zwei weitere Flächen befinden sich gerade in der Überführung erklärt Vincent. Er möchte den Streuobst-Zweig seines Betriebs auf jeden Fall weiter ausbauen.
Perfekte Symbiose für die Artenvielfalt
Vincent macht vor, wie eine zukunftsfähige Landwirtschaft durch die Erhaltung und Symbiose von alter Kulturlandschaft und tierwohlorientierter Haltung aussehen kann. Die Kühe freuen sich über Auslauf, Schatten und Fallobst, nebenbei übernehmen Sie die Pflege und Düngung. Die Artenvielfalt und Biodiversität bleibt erhalten und wir können leckeren Streuobstsaft genießen.
Eine kleine Anekdote zum Schluss
Wie die Kuh »Magic« zu ihrem Namen kam
In einer Nacht sind Vincent alle Kühe ausgebüxt. Ein Großaufgebot der Polizei suchte sogar mit einem Hubschrauber nach den entlaufenen Tieren, nur eine konnte man nicht finden. Man hatte die Kuh schon aufgegeben, als sie einen Tag später, wie durch Magie, einfach wieder auf dem Hof vor dem Stall stand. »Magic« hat sich nach dem spontanen Ausflug dann wohl doch wieder nach ihrer Streuobstwiese gesehnt.
Veröffentlichung: 12.08.2023
Autorin: Anna-Kathrin Schneider
Bilder:
Streuobstwiese bei Sonnenaufgang: Marcel Smits
Produkte vom Haghof: Leon Fahrendorf
alle weiteren Bilder: Anna-Kathrin Schneider