Velle Verlag | Hallo Ludwigsburg

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Unsichtbare Eltern

Wie unser
totes Kind
unser Leben auf den Kopf stellte

Ein Gastartikel von Laura Sterzel

Ja, wir sind Eltern — ohne, dass man es sehen kann. Das hier ist unsere Geschichte. Ich erzähle sie euch, weil wir das Thema Fehl- und Totgeburt enttabuisieren möchten.

Weil wir Awareness schaffen wollen für Sterneneltern, die gesellschaftlich scheinbar keine Rolle spielen. Dabei betrifft es mehr, als die meisten denken.



Die kleinen Füße auf dem Titelbild gehören unserer Tochter. Sie hat uns vor einigen Monaten zu Eltern gemacht. Zu Eltern von einem Sternenkind.

Unsere »Bumblebee« — ihr richtiger Name wird im Internet nicht genannt — ist eins von ca. 3.400 Babys, die in Deutschland jährlich* tot zur Welt kommen. Um in Deutschland als tot geboren zu gelten, muss das Baby nach der 24. SSW (Schwangerschaftswoche) oder mit mindestens 500 Gramm Geburtsgewicht zur Welt kommen. Nur so gilt es als Entbindung vor dem Gesetz, so dass der Mutterschutz greift – dazu könnt ihr im Artikel noch mehr lesen. Außerdem darf das Baby nach der Geburt keine Lebenszeichen zeigen, wie z.B. Herzschlag oder eine pulsierende Nabelschnur.


Wie alles begann

Die ersten Vermutungen, dass unser Kind nicht lange bei uns sein wird, waren schon in der 12. SSW von unserem Gynäkologen geäußert worden. Er hatte in der Sonografie eine massive Nackenfalte feststellen können, die nur bei fünf Prozent der Babys noch dicker ist als bei Bumblebee. Eine dicke Nackenfalte kann ein Hinweis auf einige Krankheiten sein, z.B. Trisomie 13/18/21.

Im Laufe der Schwangerschaft hat er bei weiteren Untersuchungen massive Wassereinlagerungen unter der Haut des Fötus (Hydrops fetalis) und ein zu kleines Herz festgestellt. Beides ist ein Hinweis auf eine weitere mögliche Erkrankung. Auf Anraten unseres Arztes haben wir deshalb in der 16. SSW eine Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) durchführen lassen. Nach der Untersuchung der Chromosomen stand die Diagnose unserer Tochter fest:

Sie hat das Ullrich-Turner-Syndrom.

Innerhalb von Sekunden ist uns erst ein Stein vom Herzen gefallen, weil wir endlich wussten, was sie hat. Aber im nächsten Moment ist unsere Welt zusammengebrochen:

Unser Kind, das wir uns so sehr gewünscht hatten, ist unheilbar krank und wird die Schwangerschaft sehr wahrscheinlich nicht überleben. An die Anrufe, die wir danach tätigten, um unsere Familie zu informieren, werden wir uns wohl für immer erinnern…



Die Vorbereitungen auf die Totgeburt

Ab dem Moment der Diagnose war absehbar, dass die Schwangerschaft mit Bumblebee nicht lange dauern wird. Deshalb haben wir einige Kliniken im Umkreis abtelefoniert — viele hatten kaum bis keine Erfahrung mit Totgeburten, manche haben (wahrscheinlich aufgrund des Personalmangels?) erst gar nicht auf Mails oder Anrufe reagiert.

Schlussendlich fiel unsere Entscheidung auf das Klinikum Ludwigsburg. Der wichtigste Grund war für mich, dass uns das Klinikum zusicherte, nach der Entbindung auf die gynäkologische Station gelegt zu werden. Eigentlich kommt man nach einer Geburt auf die Wochenbettstation. Stellt euch das mal vor! Du verlierst dein Wunschkind, hast gerade eine Totgeburt durchlebt und musst dann hochschwangere Frauen sehen oder in glückliche Gesichter frisch gebackene Eltern von lebendigen Kindern blicken?

Das alles wollten wir nach meinem Eingriff unbedingt vermeiden – da waren wir uns schon lange vor der Geburt im Klaren gewesen. Zum Tod im Mutterleib kam es bei Bumblebee kurz nach Beginn der 24. Schwangerschaftswoche: Am 19. Juli 2022 hat unser Gynäkologe per Ultraschall festgestellt, dass kein Herzschlag mehr zu finden ist.



Es begann eine Zeit, die nicht emotionaler für uns hätte sein können. Wir entschieden uns, noch ein Wochenende mit unserem Baby im Bauch zu verbringen und in aller Ruhe alle Vorkehrungen für die bevorstehende Zeit zu treffen. 

Wir planten die Beerdigung, suchten ein wunderschönes graues Körbchen mit Sternen für unsere Tochter aus und besichtigten zwei Friedhofswälder, in denen eine Waldbestattung möglich ist. Immer wieder überkamen uns in dieser Zeit die Tränen, die Verzweiflung und das Gefühl: Warum wir? Warum jetzt? Diese Zeit zwischen Tod und Geburt war eine der schwersten. Eltern sollten normalerweise nicht die Beerdigung ihres Kindes planen ...


Was ist eigentlich mit dem Sternenkind-Papa?

In dieser Zeit mussten wir von Arzt zu Ärztin laufen, um eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für meinen Mann zu bekommen. Der Tod unserer Tochter war zwar absehbar gewesen, aber für uns beide natürlich ein unglaublich tiefer Schock. Unser Hausarzt nahm meinen Mann und seine Gefühle nicht ernst, sprach ihm sogar jegliche Emotionen zum ungeborenen Kind ab. 

Wir hörten Sätze wie: 

  • »Ja, sie wussten ja schon, dass das Kind krank ist, die Natur wollte es so.«

  • »Sie sind ja noch jung, sie können jederzeit wieder ein Kind bekommen!«

  • »Psychische Belastungen sind vollkommen überbewertet, die Leute werden heutzutage viel zu schnell krankgeschrieben – früher war das noch anders!«

Hallo? Wir trauen gerade um unser Wunschkind und müssen erst mal klarkommen! Solche Sätze sind wie Messerstiche in den Magen. Auch wenn die Mütter die Babys auf die Welt bringen, ist das Kinderkriegen keine reine »Frauensache« — natürlich darf und muss auch den Vätern der psychische Ausnahmezustand im Falle des Verlustes zugestanden werden. Wir haben inzwischen einen neuen Hausarzt gefunden, der uns und unsere Situation besser versteht.

Die Geburt

Ende Juli gingen wir ins Klinikum, um die Geburt unseres Mädchens medikamentös einzuleiten. Eigentlich ist das Medikament Cytotec dafür da, bei Magengeschwüren zu helfen. Vor vielen Jahren wurde dann eine »Nebenwirkung« erkannt: Es sorgt dafür, dass sich die Gebärmutter zusammenzieht und Wehen auslöst. Das Medikament ist in der Medizin umstritten, wie auch die Süddeutsche Zeitung (2020) geschrieben hat.

Nach drei unglaublich schweren Tagen voller Schmerzen wurde unsere kleine Kämpferin spontan geboren. Sie wog 460 Gramm und war 27 Zentimeter groß. Unser Mädchen hat uns am 27. Juli 2022 um 15:45 Uhr zu Eltern gemacht. Ganz anders zwar, als wir uns das immer gewünscht haben. Doch wir sind es — Sterneneltern.



Tipps und Angebote
für Mamas und Papas von Sternenkindern

Befindest du dich gerade in einer ähnlichen Ausnahmesituation oder kennst jemanden, der/die das durchmachen muss? Ich hab hier ein paar Infos und Adressen zusammengestellt, die wir selbst genutzt haben:


Dauerhafte Dokumentation der Geburt beim Standesamt

Um deinem Sternenkind eine offizielle Existenz bescheinigen zu lassen, kannst du beim Standesamt eine dauerhafte Eintragung der Geburt beantragen. Auch nachträglich, wenn die (Fehl-) Geburt schon viele Jahre zurück liegt. Die Erteilung der Bescheinigung ist unabhängig von einer bestimmten Dauer der Schwangerschaft oder von einem Mindestgewicht des tot geborenen Kindes, also auch unter 500 Gramm bzw. weniger als 24. SSW. Mehr Infos findest du hier:


Erinnerungsbox
von »Stilles Wunder«

Dieser Verein stellt ehrenamtlich kleine Boxen mit Kleidung, Schutzengeln und anderen Erinnerungen her, weil es für so kleine Babys wie Bumblebee keine Kleidung auf dem freien Markt gibt. Die kleinen Boxen sind liebevoll von unterschiedlichen Personen gestaltet und werden von der Initiatorin selbst aus Vellberg (bei Schwäbisch Hall) verschickt. Als Eltern von einem Sternenkind zahlt man lediglich die Versandkosten.

Professionelle Baby-Fotografie von »Dein Sternenkind«

Dass wir Bilder von unserem Baby wollen, sobald es auf der Welt ist, war lange nicht klar – bis ich im Gespräch mit der Seelsorgerin Sabine Leibbrandt und der Oberärztin der Gynäkologie in Ludwigsburg, Dr. Buchfink, Kontakt hatte. Sie sagten mir, dass es unglaublich heilend sein kann, wenn man eine Erinnerung an das verstorbene Kind hat. Aus diesen Gründen ist dann auch die Entscheidung gefallen, dass wir gerne mit unserer Tochter Fotos machen wollen, sobald sie bei uns ist. Es gibt auch hier einen Verein, über den man Sternenkindfotograf:innen finden kann. Diese machen dann ehrenamtlich Fotos vom Baby und den Eltern.


Die Wassermethode

Die übliche Lagerung von toten Babys in der Kühlung hat mehrere Nachteile für den Körper des Kindes. Wenn Sternenkinder auf die Welt kommen, ist ihre Haut (gerade in frühen Schwangerschaftswochen) unglaublich zart und hauchdünn. Dadurch verliert sie sehr schnell an Feuchtigkeit und der Körper sackt in sich zusammen. Seit vielen Jahren wird in Skandinavien und anderen Teilen der Welt eine Methode angewendet, die die Haut der Babys fester wirken lässt und dem körperlichen Veränderungen entgegenwirkt. Dadurch können auch bei nächtlichen Geburten am nächsten Tag so schöne und »lebendige« Erinnerungsfotos vom Sternenkind entstehen, wie von Bumblebees Füßen. Die Wassermethode ist in Deutschland noch weitestgehend unbekannt.

Psychische Betreuung vor und nach der Geburt

Das Klinikum Ludwigsburg bietet derzeit eine Seelsorgerin an, die evangelische Pfarrerin ist. Sie betreut alle, auch wenn man selbst (so wie wir) nicht gläubig ist oder nicht der Kirche angehört. Sabine Leibbrandt ist mit der Wassermethode bei Totgeburten vertraut, was uns mit Bumblebee sehr geholfen hat. Außerdem gibt es die Möglichkeit, sich bei Pro Familia beraten und betreuen zu lassen — auch schon vor der Geburt. Für mich war es sehr wichtig, vor dem Tod unseres Kindes alle möglichen Eventualitäten im Voraus zu klären.


Die Waldbestattung

Es gibt die Möglichkeit, das Sternenkind an einem »Sternenkindbaum« beizusetzen. Im  FriedWald in Schwaigern oder auch im RuheForst Obersulm ist das zum Beispiel möglich. Der finanzielle Vorteil dieser Bestattungsart ist, dass man das Sternenkind kostenfrei gegen eine geringe Aufwandsentschädigung beerdigen kann. Hinzu kommen die Kosten (etwa im oberen dreistelligen Bereich) für das Krematorium und das Bestattungsinstitut. Uns hat neben dem Wald auch besonders der Gedanke gefallen, dass unsere Tochter nach ihrem Tod nicht alleine ist, sondern andere Sternenkinder direkt um sich hat.

Unterstützung aus der Familie/Freundeskreis

Meine Familie und meine beste Freundin haben uns während der gesamten Schwangerschaft beigestanden und sich komplett um das Thema Beisetzung gekümmert. Sie haben einen Bestatter ausgewählt, Verträge geschlossen, Telefonate geführt und Rechnungen bezahlt, damit wir den Kopf frei hatten, als es zum Tod unserer Tochter kam. Solch ein sozialer Rückhalt ist in einer Situation, wie wir sie erlebt haben, wirklich sehr viel wert.

An dieser Stelle nochmal ein riesengroßes Dankeschön von Herzen an meine Freundin Mimi, meine Mutter Ute, meine Schwester Carolin und meinen Schwager Edi. Danke, dass ihr in dieser Zeit immer für uns da gewesen seid.


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* 2021, Quelle: destatis.de

Veröffentlichung: 08. November 2022
Autorin: Laura Sterzel
Sternenkind-Bilder von Bumblebee: Patricia Bellmann
Infokasten Ullrich-Turner-Syndrom: Amina Filkins
Infokasten Fehl- & Totgeburt: Laura Tancredi
Infokasten Totgeburt: Victoria Strelka