Aus der Ukraine nach Kornwestheim: Wie aus der Flucht eine familiäre Freundschaft wird
Der Krieg in der Ukraine traf uns mit voller Wucht, vor allem veränderte er das Leben der Menschen in der Ukraine für immer. Laut dem Mediendienst Integration sind bisher über fünf Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet. 270.000 sind in Deutschland angekommen.
Inna, ihr vierjähriger Sohn Ostap und Innas Mutter Natalia sind drei davon.
Etwa zwei Wochen lang kamen sie bei Familie Nübel aus Kornwestheim unter, bevor sie eine eigene Wohnung beziehen konnten. Eine Zeit, die beiden Familien neue Perspektiven und eine Art erweiterte Familie beschert hat.
Welle ungemeiner Solidarität und Empathie für die Ukraine auch im Landkreis Ludwigsburg
Binnen weniger Tage nach Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 wurden zahlreiche Netzwerke aufgebaut: von Institutionen, Freiwilligen und Privatpersonen. Neben Geld- und Sachspenden wurden innerhalb kurzer Zeit Bedarfslisten erstellt, damit gezielt eingekauft und geholfen werden konnte.
Auch ich [Tine] habe gemeinsam mit meiner Familie und Freunden Pakete nach Listen gepackt — von Hygieneartikeln über Lebensmittel hin zu medizinischen Artikeln — und an Abgabestellen gebracht. Wir haben Geld gespendet und Friedensdemonstrationen besucht. Schnell wurde klar: Millionen Menschen würden die Ukraine verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen, allen voran Frauen und Kinder. Männern zwischen 18 und 60 Jahre wurde die Ausreise rasch behördlich untersagt.
Kornwestheimer Familie nimmt junge Ukrainerin mit Sohn und Oma auf
Und hier kommen Menschen wie Steffi Nübel aus Kornwestheim mit ihrem Mann und den drei Kindern ins Spiel. Via Videotelefonat konnte ich mit ihr und Inna sprechen. Sie haben mir von ihren gemeinsamen Erfahrungen erzählt — und, warum das eine sehr prägende Zeit für alle war und immer noch ist.
Eine persönliche Geschichte:
Die Heimat zu verlassen ist trotz Krieg keine leichte Entscheidung
Etwa eine Woche nach Kriegsbeginn beschloss Inna, die Ukraine gemeinsam mit ihrem Sohn zu verlassen. Ein Freund, der Soldat ist, riet ihr dazu. Er hatte ihr gesagt, solange es noch relativ einfach möglich sei, aus dem Land zu kommen, solle sie die Gelegenheit ergreifen. Solange ihre Heimatstadt Winnyzya noch nicht angegriffen war und die Lage kaum mehr einzuschätzen war.
Die Entscheidung fiel Inna nicht leicht. Aber sie packte die wichtigsten Dinge, die sie besaß, zusammen und machte sich gemeinsam mit ihren Nachbarn auf den Weg in Richtung Deutschland, Stuttgart, wo bereits die Tochter der Nachbarn lebt.
24-stündige Flucht bringt Ukrainerin und Sohn zunächst nach Stuttgart
Noch während der Flucht fühlte Inna sich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, in ihrer Heimat zu bleiben und dem Wissen, ihren Sohn und sich selbst schützen zu müssen. Nach 24 Stunden war sie hier. Sie hatte Glück. Im Vergleich zu anderen Kriegsflüchtlingen, war ihr Weg aus dem Land und in Sicherheit relativ schnell und unkompliziert verlaufen.
Ihre Mutter Natalia, die die Ukraine wenige Tage nach ihr verließ, benötigte drei Tage, um ebenfalls in Deutschland anzukommen. Natalia musste zuerst mit einem Bus nach Krakau in Polen fahren. Von dort ging es am nächsten Tag weiter nach Stuttgart.
Für Innas Mutter war es die zweite Flucht innerhalb von 15 Jahren. Sie hatte bereits aufgrund des Kaukasus-Krieges Georgien notgedrungen verlassen müssen. Auch deshalb setze ihr die erneute Flucht deutlich stärker zu, wie Inna sagt. Der Vater ihres eigenen Sohnes, von dem sie jedoch getrennt lebt, wohnt in Polen. Sie hatten vor allem zu Beginn des Krieges täglich in Kontakt gestanden. Innas Vater lebt nicht mehr, er ist bereits vor Jahren gestorben.
Wegen Allergie dringend neue Unterkunft gesucht
Kurz nachdem Inna mit ihrem Sohn in Stuttgart ankam, konnte sie dank ihrer ukrainischen Bekannten privat unterkommen. Doch sie musste ihr vorübergehendes Zuhause schon nach einer Nacht wieder verlassen, weil sie gegen die Katze ihrer Gastgeber allergisch reagierte.
Und hier beginnt die gemeinsame Geschichte von Inna und Steffi.
Für Steffi war relativ schnell klar, dass sie mehr tun möchte, als spenden. Von der Schwester ihres Mannes, die selbst Kontakt zu ukrainischen Geflüchteten hatte, erfuhr Steffi von Inna und ihrem Sohn und dass diese kurzfristig eine neue Bleibe benötigen. Steffi schickte sofort Fotos von sich und ihrer Familie: »Ich dachte, es ist auch sehr wichtig für die ukrainische Familie (...) zu wissen, zu wem sie kommen. (...) Sie ist sonst vielleicht auch verängstigt, weil sie nicht weiß: Zu wem komme ich da, wo werde ich leben und schlafen?«
Dann ging alles ganz schnell: Inna und Ostap zogen in eines der Kinderzimmer im Haus der Kornwestheimer Familie ein. Steffi berichtet: »Wir erzählten unseren Kindern ein wenig darüber, was in der Ukraine vor sich geht, denn ich denke, es ist auch für sie wichtig, zu wissen, was dort gerade passiert (...) aber ohne die brutalen Details.« Auch ihre Kinder waren sofort bereit zu helfen.
Gemeinsame Ausflüge und Kochabende fördern die Integration
Als auch Innas Mutter Natalia in Ludwigsburg ankam, konnte sie ebenfalls bei Steffis Familie unterkommen. Heute sind die drei fast schon ein Teil der Familie, obwohl sie mittlerweile in einer eigenen Wohnung in Ludwigsburg leben. Innas Sohn ist mit Steffis Kindern befreundet, er nimmt auch am Hobby der Familie, Hockey, teil. Die Familien unternehmen gemeinsame Ausflüge und wurden auch schon das ein oder andere Mal nach dem Auszug von Inna und ihrer Mutter eingeladen und bekocht. »Sie kochen immer«, erzählt Steffi während unseres Gesprächs lachend.
Auf meine Frage, ob es denn auch einmal Unstimmigkeiten oder unangenehme Situationen im gemeinsamen Zusammenleben gegeben hat, müssen beide lachen. Ich erfahre, ganz im Gegenteil: Die gemeinsame Zeit bei Steffi und ihrer Familie haben alle in guter Erinnerung. Steffi meint: »Ich muss wirklich sagen, es ist so eine großartige Familie! (...) Wenn wir nach Hause kamen, hatten Natalia und Inna für uns gekocht.« Für Inna und ihre Mutter war es wichtig, zum Ausdruck zu bringen, wie viel ihnen die Gastfreundschaft von Steffi und ihrer Familie bedeutet.
Steffi sagt selbst, dass sie Glück gehabt haben mit Inna. Es war sozusagen ein »Perfect Match« und beiden ist bewusst, dass es auch anders hätte laufen können.
Viele weitere geflüchtete Familien suchen eine Unterkunft
Steffi hofft, dass auch andere Menschen sich aufgrund ihrer positiven Erfahrungen dafür entscheiden, ukrainischen Geflüchteten übergangsweise ein neues Zuhause anzubieten.
Inna erzählt uns auch von ihrer Freundin, die in Berlin lebt und so großes Heimweh hat, dass sie trotz des Krieges wieder zurückkehren möchte. Auch Innas Mutter Natalia fällt es schwer, mit der Situation zurecht zu kommen. Zum einen, weil sie aufgrund der Sprachbarriere — sie spricht kein Englisch — äußerst isoliert hier ist. Neben Inna und Ostap, sowie Telefonaten mit ukrainischen Freundinnen hat sie kaum Möglichkeiten, sich in ihrer Sprache auszutauschen. Zum anderen ist es ihre zweite Fluchterfahrung innerhalb zweier Jahrzehnte und die Nachrichten, die aus der Ukraine kommen, belasten sie stark. Hinzu kommt, dass Natalia in der Ukraine neben einem sozialen Umfeld einen Job und Hobbys hatte — all das fällt nun komplett weg. Nahezu den ganzen Tag kreisen ihre Gedanken um die Situation in der Ukraine.
Sohn Ostap besucht Ludwigsburger Kindergarten
Was beide allerdings freut: Innas Sohn Ostap hat sich schon recht gut eingelebt. Er besucht einen Kindergarten in Ludwigsburg, wo er sich wohlfühlt, glücklich ist und auch schon Kontakte geknüpft hat. Andere Kinder im Kindergarten, die russisch sprechen, können für ihn übersetzen und so sind auch die sprachlichen Barrieren leichter zu überwinden.
Inna sagt, dass sie immer wieder überwältigt ist von der Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit der Menschen hier. »Meine Nachbarn fragen immer wieder: Braucht ihr irgendwas, können wir euch helfen?« Hier ist Inna froh, dass sie vor allem bei Behördengängen und dem Ausfüllen von Formularen auf ein soziales Netzwerk zurückgreifen kann. Auch wenn sie Englisch spricht, reichen ihre Kenntnisse nicht immer für die komplizierte deutsche Bürokratie.
Um Hilfe bitten ist nicht leicht für Inna
Glücklicherweise hat Inna aus finanzieller Sicht nicht ganz so große Sorgen wie andere in ihrer Lage. Sie verfügt über eigene Rücklagen und kann auf die Unterstützung von Freunden und Familie außerhalb der Ukraine zurückgreifen. So kann sie sich in vielen Bereichen selbstständig versorgen und muss beispielsweise auch nicht das Angebot der Tafel in Anspruch nehmen.
Es fällt Inna schwer, um Unterstützung zu bitten und Beistand einzufordern. In ihrem Leben in der Ukraine war eher sie diejenige, die anderen geholfen hat. Dort hat Inna als Lehrerin gearbeitet. Sie hatte ein schönes Zuhause, führte ein Leben, das Steffis’ in vielen Bereichen ähnelt. Kurz nach dem sie bei Steffi und ihrer Familie eingezogen ist, wurde dort zum Beispiel ein Kindergeburtstag gefeiert. Genau so, wie es nur wenige Wochen zuvor bei Inna und Ostap der Fall war. Als in der Ukraine noch Frieden herrschte.
So positiv sich die Erzählungen über Innas Einleben hier in Ludwigsburg anhören — immer wieder werden auch herausfordernde Situationen sichtbar. Inna berichtet, dass es auch für sie schwierige Momente gibt. Etwa, wenn über Straßenmalereien, die Solidarität mit den Ukrainerinnen und Ukrainern ausdrücken sollen, ein »Z« (russisches Militär- und Propagandazeichen) gemalt wird, wie letztens in Ludwigsburg. Wir alle wünschen uns hier ein stärkeres Eingreifen von Behörden und der Stadt. Es kann nicht sein, dass Ukrainer:innen auf solche Art und Weise getriggert und verletzt werden.
Von Hoffnungen, Wünschen und einem Plan B
Am Ende unseres Gesprächs möchte ich von Inna wissen, wie ihre Zukunftspläne, Hoffnungen und Wünsche sind. »Ich möchte nach Hause gehen«, sagt sie sofort. Doch Inna ist auch Realistin: Ihre Heimat liegt in Trümmern. Dort ist nichts mehr wie es war. Kaum jemand wird einfach wieder da anknüpfen können, wo sie oder er aufgehört hat.
Das Land, das ihr Zuhause ist, wird jahrelang, wenn nicht jahrzehntelang, wiederaufgebaut werden müssen. Deshalb hat Inna einen Plan B. Sie möchte schnell Deutsch lernen und hofft, sich hier auch bald eine Arbeitsstelle suchen zu können, etwa als Unterstützung in Schulen bei der Betreuung und Eingliederung ukrainischer Kinder: »Ich möchte einen Job finden, ich möchte etwas tun.«
Noch ein paar persönliche Worte von mir zur aktuellen Lage
Bis heute bin ich ergriffen von der ungemeinen Solidarität und Hilfsbereitschaft, die wir in Deutschland und anderen europäischen Ländern den Ukrainer:innen und Ukrainern entgegenbringen. Und diese Hilfe ist auch absolut richtig und wichtig! Sie zeigt, dass wir empathisch sind und uns um das Schicksal von anderen kümmern, uns andere Menschen wichtig sind.
Ich würde mir wünschen, dass dies auch anderen Flüchtenden gegenüber möglich ist und wir nicht unterscheiden zwischen den einen und den anderen Geflüchteten, die aus prekären Situationen heraus Hilfe benötigen.
Du willst Geflüchteten aus der Ukraine helfen?
Ein paar Möglichkeiten findest du hier:
Infos für Ludwigsburger:innen
Wer ukrainischen Geflüchteten in Ludwigsburg helfen möchte, findet auf der Website der Stadt Ludwigsburg zahlreiche Informationen.
Neben hilfreichen Links für Sach- und Geldspenden gibt es hier auch Links zu Unterkunft Ukraine oder Casa Connect. Hier können sich auch Privatleute anmelden und Wohnraum zur Verfügung stellen.
Auch auf den Seiten des Landratsamt Ludwigsburg findest du weitere Informationen in einem FAQ.
Infos für Geflüchtete aus der Ukraine
Die Seite www.germany4ukraine.de richtet sich vor allem an Geflüchtete und versucht, auf Fragen passende Antworten bereitzustellen.
Unter der Telefon-Hotline 0800 70 22 500 des Ministerium der Justiz und für Migration können Geflüchtete mit ukrainisch- und russischsprachigen Mitarbeiter:innen sprechen.
Veröffentlichung: 08. Mai 2022
Autorin: Christine Kopp
Bilder: Deborah Schulze; privat